Tor zur Schwärmerei
Schwärmerei führt uns in eine Welt der Einbildungen. Wir glauben lieber unseren Vorstellungen als den Tatsachen und verschließen schließlich die Augen vor der Realität. So kann aus anfänglicher Begeisterung eine unkontrollierte Fantasie werden.
Ein Auslöser für Schwärmerei kann das Staunen sein. Wenn wir etwas scheinbar Wunderbares erleben, das wir uns nicht erklären können oder das unseren Naturgesetzen widerspricht, besteht die Gefahr, dass dieses Staunen in blinde Schwärmerei umschlägt.
Menschen, die schwärmen, suchen oft Anhänger, indem sie andere zum Staunen bringen und sie mit ihrer Begeisterung "blenden" wollen. Ein Medium im Okkultismus oder Spiritismus kann beispielsweise durch angebliche telepathische Fähigkeiten beeindrucken und so Klienten und Anhänger gewinnen.
Der südamerikanische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez beschreibt diese Schattenseiten des Staunens eindrücklich in seinem Meisterwerk "Hundert Jahre Einsamkeit". Gleich zu Beginn des Romans kommt gelegentlich eine Gruppe von Zigeunern in das abgelegene Dorf Macondo und versetzt die Bewohner mit für uns alltäglichen Erfindungen in Erstaunen. Magnete, Lupen, Fernrohre oder ein künstliches Gebiss faszinieren eine der Hauptfiguren, José Arcadio Buendía, so sehr, dass er in unkontrollierte Schwärmerei, Fantastereien und Experimente verfällt.
Ein Beispiel dafür ist folgende Szene: „ An einem glutheißen Mittag führten sie mit ihrer Riesenlupe ein überwältigendes Experiment vor: Sie legten einen Haufen dürres Laub auf die Straße und zündeten es an, indem sie die gebündelten Sonnenstrahlen darauf richteten. José Arcadio Buendia, … kam auf den Einfall, diese Erfindung als Kriegswaffe zu verwenden…
In der Absicht, die Wirkung der Lupe auf feindliche Truppen zu beweisen, setzte er sich selber den gebündelten Sonnenstrahlen aus und erlitt Verbrennungen, die zu Geschwüren wurden und lange nicht heilten… Lange Stunden verbrachte er in seinem Zimmer und stellte Berechnungen über die strategischen Möglichkeiten seiner neuartigen Waffen an, bis es ihm gelang, ein Handbuch von verblüffender didaktischer Klarheit und unwiderstehlicher Überzeugungskraft zu verfassen.“ (Márquez, Gabriel, Hundert Jahre Einsamkeit, dtv: München S.9, 18. Aufl. 1997)